Maigret 30 by Simenon

Maigret 30 by Simenon

Autor:Simenon
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: General Fiction
veröffentlicht: 2013-02-05T05:00:00+00:00


6

Eine kleine Familienfeier

E

rst um acht Uhr abends, als die Gaslaternen die Perspektive der Straßen rund um den Are de Triomphe mit einem Hohlsaum aus Lichtern nachzeichneten und Maigret nicht mehr viel Hoffnung hatte, kam er mit der Wirklichkeit, die er suchte, in Berührung.

Von seinem Nachmittag blieb ihm die strahlende Erinnerung an den schönsten Frühling in Paris, an eine Luft, die so milde war und so wundervoll roch, daß man stehenblieb, um sie einzuatmen. Sicher gingen die Frauen schon seit Tagen in den lauen Stunden ohne Mantel aus, doch er bemerkte es erst jetzt. Ihm war, als hätte allenthalben ein Blühen von hellen Kleidern begonnen; auf den Hüten wippten schon Margeriten, Kornblumen und Mohn, und viele Männer wagten sich mit dem Strohhut auf die Straße.

Stundenlang hatte er nichts anderes getan, als einen kleinen Abschnitt zwischen Etoile, Place des Ternes und Porte Maillot abzuschreiten. An der Rue Brey stieß man, gleich wenn man um die Ecke bog, auf drei Frauen in hochhackigen Stiefeletten und enggeschnürten Korsetts. Sie sprachen nicht miteinander, sie bildeten kein Grüppchen, doch sowie ein Passant auftauchte, stürzten sich alle drei auf ihn. Ihr Ankerplatz war das Hotel, wo der Graf wohnte, und neben dem Eingang wartete eine vierte Frau, viel dicker als die anderen, zu träge, um weiter draußen auf Kunden zu lauern.

Warum fiel Maigret auf, daß sich gleich gegenüber eine Wäscherei voll frischer junger Mädchen befand, die emsig mit dem Bügeleisen hantierten? Lag es am Kontrast?

»Ist der Graf oben?« erkundigte er sich in der Rezeption.

Er wurde von Kopf bis Fuß gemustert. Alle Menschen, denen er an diesem Tag noch begegnen sollte, hatten die gleiche Art, ihn prüfend anzusehen, bedächtig, wie im Zeitlupentempo, eher gelangweilt als verächtlich, und alle antworteten ihm widerstrebend.

»Gehen Sie rauf und sehen Sie nach!«

Er sah sich schon am Ziel seines ersten Vorhabens.

»Können Sie mir seine Zimmernummer sagen?«

Ein Zögern. Die Frage hatte bewiesen, daß er den Grafen nicht näher kannte.

»32 …«

Er ging nach oben. Es roch nach Menschen und nach Küche. Am Ende des Korridors stand ein Zimmermädchen und stapelte Bettlaken, die aussahen, als wären sie noch feucht von Schweiß. Vergeblich klopfte er an eine Tür.

»Wollen Sie zu Lucile?« rief das Mädchen von weitem.

»Zum Grafen.«

»Er ist nicht da. Niemand ist da.«

»Wissen Sie zufällig, wo ich ihn treffen kann?«

Das schien eine so alberne Frage zu sein, daß das Mädchen sich nicht mal die Mühe nahm, darauf zu antworten.

»Und Lucile?«

»Ist sie denn nicht im ›Coq‹?«

Wieder hatte er sich verraten. Sie wurde sofort mißtrauisch. Was tat er hier, wenn er nicht einmal wußte, wo Lucile zu finden war?

›Le Coq‹ war eines der beiden Cafés an der Ecke der Avenue de Wagram. Die Terrassen waren breit. Ein paar Frauen ohne Begleitung saßen an den Tischen, und Maigret vermutete, daß es zwischen ihnen und jenen, die an der Ecke der Rue Brey auf der Lauer lagen, gewisse unterschiedliche Nuancen gab. Es gab noch eine dritte Sorte, Frauen, die bis zur Etoile schlenderten, dann langsam, immer wieder vor den Schaufenstern stehenbleibend, zur Place des Ternes zurückkehrten.

Einige von ihnen hätte man für achtbare Bürgerfrauen halten können, die sich einen kleinen Spaziergang gönnten.



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